Steinbeisser

Das war schon immer so. Und so soll es tunlichst auch bleiben. Ein wahres Totschlagargument für Kreativität. Eine bloße Behauptung, ein Vorurteil, das die Menschheit in der Vergangenheit nur selten weitergebracht hat. Wir tun Dinge auf eine bestimmte Art, weil wir nicht über andere Möglichkeiten nachgedacht haben. Dabei sind es die Störzonen des Lebens die Besonderes hervorbringen. Sie fördern Dinge zu Tage, die mit dem ursprünglichen Ziel nichts zu tun haben, produzieren Nebeneffekte und neue Erkenntnisse die völlig überraschend sind. Das Leben ist ein Experiment. Die Erkenntnis kommt fast immer durch die Hintertür.

Es ist also alles andere als ein Zufall, dass „Steinbeisser“ das Experiment zum zentralen Element ihrer Idee gemacht hat. Bei den von Martin Kullik und Jouw Wijnsma kuratierten Veranstaltungen geht es darum sich einzulassen, sich von Gewohntem und Erlerntem zu verabschieden. Gekocht wird vegan, mit hervorragenden Köchen wie Yoji Tokuyoshi, Tanja Grandits oder Alexandre Gauthier. Letzterer ist bei der Veranstaltung im Lloyd Hotel in Amsterdam für die kulinarische Ausrichtung des Dinners verantwortlich. Der französische Spitzenkoch ist von der Idee begeistert, lotet Möglichkeiten aus und zwingt sich Ungewissheiten in Kauf zu nehmen. Eine Übung die ihm gut tue, schließlich sei ohnehin schon alles viel zu vorhersehbar, sagt er. Geschirr und Besteck kommen von insgesamt neun verschiedenen Künstlern, die in stundenlanger Handarbeit die Werkzeuge für diese Veranstaltungen fertigen. Sie kombinieren verschiedene Materialien wie Algen, Erde, Glas, Holz, Keramik, Metall, Stein und Ton und schaffen damit Außergewöhnliches. Besteck das die Gäste fragend in die Runde blicken lässt, Essgewohnheiten auf den Kopf stellt und dabei doch so verbindend wirkt. Am Tisch sitzen eben alle in einem Boot, man teilt die Ratlosigkeit und auch die Erkenntnis. Ungeahnte Geschmacksempfindungen, Aromen, Konsistenzen und Temperaturen sind der Lohn des Risikos.

 

Das Leben ist ein Experiment. Die Erkenntnis kommt fast immer durch die Hintertür.

Steinbeisser ist also viel mehr ein Künstlerkollektiv, als bloß ein Veranstalter exklusiver Dinnerevents mit Sternekochbeteiligung. Eine Ansammlung von Verrückten, von Menschen die sich ganz und gar ihrer Passion hingeben und die Welt dabei verändern wollen. Marion Luttenberger und ich mussten daher nicht lange überlegen, als uns Martin Kullik vor einigen Monaten fragte, ob wir die Veranstaltung mit unserer Arbeit unterstützen wollen. Die Verrückten dieser Welt finden sich, auch über Landesgrenzen und Branchen hinweg, das ist fast schon ein Naturgesetz. Und so reisten wir nach Amsterdam, checkten im Lloyd Hotel ein und kauften ein paar Säcke Erde. Weil das Leben in der Erde beginnt und weil wir das Projekt mit einer Idee bereichern wollten, die so naheliegend und deshalb so unglaublich stark und schön ist. Wir haben Essen auf Erde fotografiert.

Zwei einfache Küchensiebe waren neben dem Fotoequipment die wichtigsten Utensilien. Zwei Tage lang haben wir gesiebt, Erde zu Kugeln geformt, gebacken und wieder zerbröselt. Das Ergebnis sind Bilder die dem Boden huldigen. Aus ihm entspringt das Leben und damit auch die Kreativität. Kaum etwas was wir in diesen Tagen umgesetzt haben war planbar, schon gar nicht vorhersehbar. „Es lebe die Freiheit für das Hirn“, sagten wir uns und begannen zu tun. Mit aller Leidenschaft und Präzision zu der wir fähig waren. Erfolge lassen sich nicht kalkulieren, das gilt auch und gerade für das Projekt Steinbeisser. Wer sich in einer sich stetig verändernden Welt zurechtfinden will, sollte aufhören zu planen, ab und zu die Perspektive wechseln und sich mit möglichst unterschiedlichen Menschen umgeben. Vergessen wir das was uns unsere Eltern über Messer und Gabel beigebracht haben und feiern wir die Irritation und das Unerwartete – das Leben ist voller Chancen.

Fotografie: Marion Luttenberger