Michael Kerbler

WP: Weisses Papier
MK: Michael Kerbler

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Nehmen wir an, Du müsstest Dich beschreiben, was würdest Du sagen?

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Lass es mich mit einem meiner Lieblingsromane von Herman Melville sagen: „I’m a rather elderly man.“

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Was bedeutet das für Dich?

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Es gibt zwei Arten der Übersetzung. Die eine übersetzt die Passage mit: „Ich bin ein Mann in den besten Jahren“, die andere mit „Ich bin nicht mehr der Jüngste.“ Die Ironie der zweiten Variante kommt im Original gar nicht vor, das deutet darauf hin, dass auch der Übersetzer nicht mehr der Jüngste gewesen sein dürfte (schmunzelt). Irgendwo zwischen diesen beiden Übersetzungen befinde ich mich. Eigentlich würde ich nicht jünger sein wollen, denn ich bin mit meinem Alter und meiner Verfassung sehr zufrieden.

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Im Rahmen Deiner Sendereihe „Im Gespräch“ hast Du viele spannende Menschen mit ebenso spannenden Biografien getroffen. Gibt es etwas das sie retrospektiv eint?

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Wäre ich von einer leichten Hybris geplagt, würde ich sagen, sie waren alle Gäste meiner Sendung. Das eint sie (lacht). Ich war immer frei in der Auswahl meiner Gesprächspartner, niemand hat mir „Empfehlungen“ gegeben, wer denn ein guter Gast wäre. Retrospektiv betrachtet wollten alle aktiv etwas in ihrem Leben ändern. Entweder an der eigenen Situation, oder an der Situation der Umgebung. Ich denke da zum Beispiel an Stéphane Hessel, der mit seinem Buch „Empört Euch“ in ganz Europa unterwegs war. Mit weit über 90 ist er nach Wien gekommen und ich hatte die Gelegenheit im Parlament mit ihm vor vollem Plenarsaal lange und intensiv zu reden. Die Energie dieses Menschen hat mich tief beeindruckt. Insgesamt ging es immer um Veränderung, meine Gäste wollten das Gegenteil einer Zuschauerdemokratie, die nur von der Tribüne aus stattfindet.

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Es geht also darum nicht tatenlos zuzusehen?

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Ja, und darum, sich für die Demokratie mitverantwortlich zu fühlen.

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Ein schöner Gedanke und gerade in Zeiten wie diesen immens wichtig. Aber wie findet man seine eigene Position, von der aus man dann aktiv werden kann? Ist es etwas das von aussen bestimmt wird, oder ist es viel eher etwas was man von Anfang an in sich trägt?

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Als meine Frau und ich geheiratet haben, waren wir bald mit ihrer schweren Erkrankung konfrontiert. Unser Sohn Daniel war damals ein Jahr alt. Wir wussten nicht wie das alles ausgeht. Das hat mein Koordinatensystem völlig verschoben. Ich war damals 26, hatte meine Perspektiven, es war alles paletti und dann kommt eine Zäsur. Dieser Einschnitt hat meine Wertigkeiten, also das was wirklich zählt, verschoben und bei mir eine starke Konzentration in Richtung Familie zur Folge gehabt. Am Bücherregal zog es mich zur Lyrik, das hat mir damals sehr geholfen.

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Das Leben ist Veränderung, wie bist Du mit diesem Faktum umgegangen?

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Wenn ich zurückblicke, dann ist mein Leben voll von Metamorphosen. Mir war es immer wichtig selbstbestimmt zu sein. In Zyklen von 5-7 Jahren hab ich immer wieder etwas Neues oder Anderes gemacht. Ich war in der glücklichen Lage dabei auf Menschen zu treffen, die mich auf diesen Wegen unterstützt haben. Ich hatte großartige Generalintendanten, allen voran Gerd Bacher und Gerhard Zeiler, und mit Helmut Bock auch einen wunderbaren Chefredakteur.

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Menschen die Dich also gelassen haben, Deinen Wunsch nach Selbstbestimmtheit respektiert haben.

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Ich will diese Zeit rückblickend nicht verklären, aber ich hatte wirklich Glück. Ich bin zur richtigen Zeit den richtigen Menschen über den Weg gelaufen. Ich denke da auch an meine Begegnung mit Leonard Bernstein. Ich machte damals die Pressearbeit für Amnesty International und er dirigierte in Wien für Amnesty den FIDELIO. Ich durfte nach der Aufführung am Abendessen teilnehmen. Wir saßen mit seiner chilenischen Frau am Tisch, als er mich gefragt hat, wie mir FIDELIO gefallen hätte. Aus dieser simplen Frage entwickelte sich ein politisches Gespräch und aus dem Gespräch ein für mich künstlerisch sehr lehrreicher Meinungsaustausch. Großzügigkeit von Menschen, die haushoch über einem stehen, und dennoch offen auf dich zugehen, hat mich geprägt. In mir tauchte das Bedürfnis auf, etwas zurückzugeben.

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Eine Geschichte die sich noch oft in Deinem Leben wiederholen sollte. Warum glaubst Du hört man Dir zu, schenkt Dir Zeit und Aufmerksamkeit?

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In den meisten Fällen ging es ja nicht um mich, sondern um die Sache. Ich habe die Erfahrung gemacht, dass es leichter ist Gehör zu finden, wenn man sich von der eigenen Person lösen kann, wenn man es schafft zu abstrahieren. Das lässt mich hoffen, denn es zeigt, dass man auch im Dialog bleiben kann, wenn man nicht derselben Meinung ist. Wenn es gelingt im Gegenüber Resonanz auszulösen, und man bei aller Differenz versucht einen Minimalkonsens zu finden, dann ist viel erreicht. Menschen an einen Tisch zu bringen, die unter normalen Bedingungen nicht miteinander reden würden, ist eine schöne Herausforderung.

 

Ich will mir ähnlicher werden.

Michael Kerbler

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Das erfordert ein hohes Maß an Empathiefähigkeit.

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Ja. Eine Tatsache, die mich an meinem Freund, den großartigen Schriftsteller Jiri Gruša erinnert. Er sagte mir einmal, dass es im Leben um genau drei Dinge geht. Erstens um Empathie und die Tatsache, dass dein Gegenüber genauso gescheit und gut ist wie du selbst. Zweitens darum, sich selbst nicht zu wichtig zu nehmen. Und Drittens, dass man versuchen sollte eine gemeinsame Sprache zu finden.

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Hast Du das in deiner Sendung „Im Gespräch“ verinnerlicht?

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Als ich den ORF verlassen habe, hat mir ein lieber Freund 38 Jahre Arbeit zum Nachhören mit auf den Weg gegeben. Das Überraschende ist, 38 Jahre passen auf einen einzigen USB-Stick. Auch wenn ich mir nicht alle 38 Jahre angehört hab, einiges war es dann doch. Hätte ich das schon früher getan, wäre ich mir wahrscheinlich eher auf die Schliche gekommen und hätte einige Dinge anders gemacht. Wichtig war und ist, dass es echte Gespräche und keine Interviews waren. Diese orientierten sich in ihrer Urform interessanterweise nämlich an polizeilichen Vernehmungsprotokollen. Womit wir wieder bei Empathie, Selbstironie und der Fähigkeit Zuzuhören wären. Der Erfolg der Sendung beruhte drauf, dass ich viele Fragen stellvertretend für das unsichtbare Publikum gestellt und sie damit mitgenommen habe.

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Würdest Du Dich als einen geduldigen Menschen beschreiben?

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Meine Mutter hat mir beigebracht wie wichtig es ist diszipliniert zu sein. Disziplin hat mir stets geholfen. Ein Beispiel: als Kind habe ich unglaublich gelispelt. Meine Volksschullehrerin hat mich gezielt gefördert und mir gemeinsam mit einer Logopädin die korrekte Aussprache gelernt. Später hab ich der ganzen Klasse vorlesen müssen, um zu zeigen was ich gelernt hatte. Ich habe dem Druck standgehalten und das in mich gesetzte Vertrauen nicht enttäuscht. Dieselbe Lehrerin hat mich dann übrigens auch für die Mittelschule empfohlen. Das war wichtig, denn ich wollte ja Journalist werden. Wäre es nach meinem Vater gegangen, wäre aus mir ein Handwerker geworden. Denn Handwerk hatte seiner Ansicht nach goldenen Boden.

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Du bist sehr ausgeglichen, gibt es dennoch ein paar Stellschrauben an denen Du noch drehen möchtest?

MK
Ich bin und bleibe ein Suchender. Das kann man nicht ablegen, wie ein gebrauchtes Hemd. Als ich in Äthiopien war und ein ganzes Dorf zwangsweise umgesiedelt wurde, weil es drei Jahre dort nicht geregnet hatte, gab es eine Begegnung mit einem alten Mann. Er war der Dorfälteste und wollte diesen Ort unter keinen Umständen verlassen. Aus Respekt brachte man ihn nicht wie alle anderen mit vorgehaltener Waffe zum wartenden LKW. Ich sprach mit ihm, er erzählte davon, dass er hier geboren sei, das Land bestellt habe und genau deshalb auch hier sterben wolle. Er blieb vor seiner Hütte sitzen. Am Morgen darauf fand man ihn. Er war fortgegangen. Man hat ihn in der steinharten Erde seiner Heimat begraben. Der Boden war so hart, dass ein Bulldozer notwenig war, um das Grab zu schaufeln. Das sind Begegnungen und Bilder, die sich eingeprägt haben.

WP
Wenn Du noch einmal so rein und so dumm sein könntest wie weißes Papier …

MK
Ich kenne diese Textzeile. Darin geht es um einen Mann der von einer Frau verlassen wird, und in dem deshalb der Wunsch des Vergessens aufkeimt. Ich glaube, dass das falsch ist. Denn weisses Papier ist alles andere als dumm. Und wir sind, was wir erinnern. Was aufgeschrieben ist, ist vergessen. Meine intensivsten Momente hatte ich immer dann wenn ich Umwege gegangen bin, wenn es nicht um Effizienz ging, sondern um das Gegenteil. Ich hab gelernt die Bilder in meinem Kopf zuzulassen, denn sie sind und waren eine wichtige Orientierungshilfe. Wie das Bild von jenem alten Äthiopier, vor dem ich mich gar nicht schützen kann. Das Leben ist ein bisschen wie Archäologie, man trägt die einzelnen Schichten ab. Eine nach der anderen. Was zurückbleibt, sind Fragen:
Kann man jemanden vermissen, den man nicht gekannt hat? Bin ich der geworden, der ich sein wollte? Was hab ich noch vor? Was möchte ich verändern? Was ist es was wir in uns tragen?

Das Wichtigste ist, offen zu sein und zuzuhören. Egal in welchem Alter. Ja, ich will mir ähnlicher werden.